Ein Tauchgang in das Wesen der Angst
und was uns das bringt
Ängste sind einer der Grundauslöser für Konflikte – in Familien, Unternehmen, zwischen Partnerschaften und Freundschaften. Unabhängig von Status, Position, Lebenserfahrung.
Woher kommt die lähmende Angst? Wird es harmonischer, wenn wir Auseinandersetzungen meiden? Unterscheidet sich der Umgang in verschiedenen Kontexten (Kultur, Gesellschaftsschicht, Arbeitskontext, Mentalitäten)? Diese Fragen beschäftigen uns immer wieder in unserer Arbeit – in diesem Beitrag gehen wir ihnen nach und tauchen dafür etwas tiefer in das Wesen der Angst ein. Denn nur, wenn wir die Angst verstehen, können wir sie überwinden – und damit unseren Pfad Richtung Frieden einschlagen.
Drei Erkenntnisse möchte ich teilen, zu denen mich das Buch von dem langjährigen praktizierenden Psychotherapeuten Fritz Riemann inspiriert hat:
Die erste Erkenntnis: Die Angst gehört zum Leben sowie der Tod. So wie wir versuchen, den Tod zu verdrängen, tun wir alles, um auch unsere Ängste zu vermeiden und zu kontrollieren. Doch ein Unfall eines nahen Menschen – und der Tod ist da, er lässt sich nicht verdrängen. So ist es auch mit der Angst. Sie hält sich meist im Unbewussten auf.
Die zweite Erkenntnis: Wir alle, unabhängig von Herkunft, Status, Alter und Geschlecht tragen vier Grundformen an Angst in uns.
Was sich von Kultur zu Kultur und Entwicklungsphase jedes Einzelnen / jeder Gesellschaft ändert sind die Angstobjekte – das, was die Angst auslöst und die Mittel und Maßnahmen, die wir anwenden, sie zu bekämpfen. Alles neue, unbegreifliche, unvertraute, noch nicht Erfahrene löst erstmal Angst aus. So haben wir zum Beispiel keine Angst mehr vor Donner und Blitz oder Sonnenfinsternis, umso mehr aber vor Alter und Einsamkeit. Statt magischen Zauber verwenden wir heute pharmazeutische Mittel, um die Angst zuzudecken. Im besten Fall lernen wir sie jedoch zu überwinden und uns dabei zu entwickeln. Denn die Angst bleibt. Das, was sie auslöst ändert sich. Also lohnt es sich, sie näher kennenzulernen.
Kurzer Ausflug zu den vier Grundformen:
Riemann hat in seinen Nachforschungen über die Angst vier Grundtypen entdeckt, die jeder Mensch in sich trägt. Je nach Geburt, Lebens- und Umweltbedingungen und Veranlagungen gibt es unterschiedliche Ausprägungen. Und jeder Mensch trägt eine individuelle Geschichte der Angst in sich: welche alten Wunden welche Angst auslösen, ob sie greifbar oder diffus ist, und wie damit umgegangen wird.
- Die Angst vor der Hingabe ( Erlebnis von Ich-Verlust und Abhängigkeit): Das Streben, sich der Welt hinzugeben, sich dem Leben und den Mitmenschen vertrauend zu öffnen, löst die Angst aus, das Ich zu verlieren. Die Angst, abhängig zu werden, in der geforderten Anpassung zu viel opfern zu müssen. Überwinden wir diese Angst nicht, riskieren wir isolierte Einzelwesen ohne Bindung und Zugehörigkeit zu werden.
- Die Angst vor der Selbstwerdung (Erlebnis von Ungeborgenheit und Isolierung): Das Streben, sich abzugrenzen und kein austauschbarer Massenmensch zu sein löst die Angst aus, nicht mehr zugehörig zu sein. Die Angst, aus der Gemeinschaft herauszufallen mit der Folge isoliert und einsam zu sein. Überwinden wir diese Angst nicht, riskieren wir in toxische Abhängigkeiten zu verharren, unser selbst zu verlieren.
- Die Angst vor der Veränderung (Vergänglichkeit und Unsicherheit): Es gibt wohl eine natürliche Schwerkraft in uns, die Dauer anstrebt, plant, Sicherheit schaffen will, als ob wir für immer und ewig auf diesem Planeten sein werden. Sie bringt uns dazu, Ziele verwirklichen zu wollen. Diese bringt die Angst vor allem Vergänglichen, und Ungewissen mit sich. Abhängigkeiten, und Unberechenbarkeiten sind ein Grauen. Überwinden wir diese Angst nicht, sind wir nicht anpassungsfähig und möglicherweise nicht lebensfähig.
- Die Angst vor der Notwendigkeit (als Endgültigkeit und Befreiung). Unser Streben, sich zu wandeln, sich vom Erreichten zu lösen, Abschied zu nehmen, Vertrautes aufzugeben löst die Angst vor Ordnung, Gewohnheiten, Regeln, und Gesetze aus. Die Angst, von der Vergangenheit festgehalten zu werden, nicht weiter zu kommen, eingeengt werden, endgültig zu erstarren, sich leer zu fühlen. Überwinden wir diese Angst nicht, hören wir auf zu gestalten, und ebenfalls nicht lebensfähig zu sein.
Wozu sind nun diese vier Grundtypen nützlich?
Die dritte Erkenntnis: Die Angst kann uns aktivieren und lähmen. Es gibt Wege, die Angst für unsere Entwicklung fruchtbar zu machen. Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und Liebe. Einer der ersten Überwindungen einer Grundangst ist das Laufen lernen. Das heißt, wir entwickeln uns, indem wir Ängste überwinden. Wir hemmen unsere Entwicklung, wenn wir diese nicht überwinden. Daraus können dann auch Störungsbilder entstehen, wie Angststörungen oder Depression, Schizoide Störungen, und Persönlichkeitsstörungen.
Wie überwindet man die Angst? Gibt es ein Grundrezept?
Nicht alle Wege sind fruchtbar, jeder Weg ist individuell. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Macht oder Kontrolle nicht dazu führen, Ängste zu überwinden, sondern sie lediglich zu verlagern. Hatte man damals noch Angst vor der Sonnenfinsternis, haben wir uns heute Angst vor uns selbst geschaffen: den selbst initiierten Klimawandel, mit der ursprünglichen Intention, sich den Naturgewalten und Ressourcen zu ermächtigen. Andere Wege, Ängste zu überwinden, sind bei schon entwickelten Hemmungen die Psychotherapie. Ansonsten hilft Vertrauen, Mut, Liebe, Geduld…und ein Bewusstsein.
Wie lässt sich dies auf unseren Umgang mit Konflikten übertragen?
Wenn wir uns mit anderen Menschen auseinanderzusetzen, können die vier verschiedenen Grundformen der Angst aktiviert werden:
- Ich kann Angst haben, meine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zu verlieren. Häufig treten diese Ängste besonders stark in Trennungsprozessen in Familien oder beim Jobwechsel auf.
- Ich kann Angst haben, meinen Status und meine Position als Merkmal meiner Individualität zu verlieren: Ich offenbare, dieselben Bedürfnisse zu haben wie mein Gegenüber und trete damit in Beziehung. Diese Ängste treten oft auf, wenn eine Führungskraft und eine Mitarbeitende einen Konflikt austragen.
- Ich kann Angst vor dem Ungewissen habe: Welche Veränderungen werden mit der Auseinandersetzung ausgelöst? Welche Gewohnheiten werden durchbrochen? Diese Ängste sind sehr präsent, wenn es strukturelle Veränderungen in Unternehmen gibt. Daher ist die psychologische Sicherheit in Teams so wichtig. Sie macht sie resilient im Umgang mit Veränderungen. (Ein Beitrag hierzu folgt)
- Ich kann aber auch Angst haben, dass sich nichts ändert. Dass der Konflikt bleibt, nicht lösbar ist, mich festhält, mich in meiner Entwicklung stagnieren lässt. Diese Angst tritt häufig hervor, wenn Unternehmende merken, dass ihre Mitarbeitenden sich vor Veränderungen scheuen. Die Angst, als Unternehmen nicht anpassungsfähig zu sein und bankrott zu gehen.
Ängste steuern unser Handeln. Sie verleiten uns zu unlogischen Entscheidungen. Sie verursachen auf neurobiologischer Ebene Stress. Sie sorgen dafür, dass wir überleben. Ein Bewusstsein über unsere Ängste, sorgt dafür, dass wir unser Überleben gestalten können.
Wie das genau gehen kann, stellen wir in unserem nächsten Beitrag vor.